Helden oder Protagonisten?

Illustration of hero bust back to back to character bust

Systematische Lösungsansätze für tiefsitzende gesellschaftliche Probleme erfordern mehr als einige außergewöhnliche Menschen; sie erfordern eine Armee an gewöhnlichen Menschen, die effektive Strategien und Methoden einsetzen. Deshalb ist Lösungsjournalismus interessanter, wenn sich die Geschichten auf dreidimensionale, vielschichtige Protagonisten und ein spannendes Narrativ stützen statt auf „Helden“.

Wie kann man sich selbst davor bewahren, in Heldenverehrung abzurutschen, selbst wenn man manchmal ehrlich beeindruckt ist von der Genialität oder den Führungsqualitäten eines Menschen? Hier einige Tipps:

 

  • “Show, don’t tell!” – Die alte Maxime gilt für gutes Schreiben aller Art. Beobachten Sie die Architekten der Lösung und ihre Klienten in Aktion und entwerfen Sie für Ihre Lesern ein lebendiges Bild. Je mehr Sie vor Ort sein können, desto besser.
  • Wenn Sie beschreiben, was Sie beobachten ohne wertende Adjektive wie „fantastisch“ oder „wundervoll“, lassen Sie die Leser ihre eigenen Schlüsse über die Qualitäten der Protagonisten ziehen.
  • Vergessen Sie nicht, wie wertvoll es ist, die Herausforderungen zu enthüllen, die die Protagonisten bewältigen müssen. Es geht nicht darum, sie zu beschämen oder zu verurteilen, sondern sie real werden zu lassen. Vielleicht ist der Kopf einer Organisation ein unglaublicher Visionär, aber ein lausiger Manager. Oder vielleicht kann er das Projekt nicht ausweiten, weil er nicht delegieren kann. Wir behaupten, dass es hilfreicher ist, über jemanden ehrlich zu berichten als sie zu einem makellosen Helden zu stilisieren.
  • Hinter jeder Geschichte über einen einflussreichen Reformer stecken verborgene Privilegien (etwa das große Startup Investment einer Tante), ein herzzerbrechender Streit mit einem Verbündeten oder ein katastrophales Scheitern. Lassen Sie das nicht dramatischer klingen als es ist, aber scheuen Sie sich auch nicht, die dunklen Momente zu beschreiben, denn aus ihnen können andere lernen.
  • Achten Sie auf unwahrscheinliche Protagonisten. Oft sind die Adressaten eines Lösungsansatzes die Katalyse für einen interessanteren Spannungsbogen als die Unternehmer. Oder denken Sie an Leute innerhalb einer Organisation, aber die ohne großen Titel. Oft übersieht man großartige Protagonisten, weil sie keinen Direktor- oder Vorstandstitel haben. Geoff Dembicki, ein Nachhaltigkeitsreporter, gibt ein Beispiel: „Mir wurde klar, dass die Berichterstattung bei manchen Themen, zum Beispiel Klimawandel, dazu tendiert, die immergleichen Archetypen zu schildern: den umweltbegeisterten Underdog, den gerissenen Lobbyisten, den ahnungslosen Konservativen, usw. Manchmal ist der fesselndste Aspekt einer Lösungsgeschichte die Entdeckung neuer Archetypen. Ich bekam enorm viel positives Feedback zu meinem Profil eines libertären Installateurs für Solaranlagen auf Hawaii, weil es die Klischees in den Köpfen herausforderte, wer sich für die Umwelt interessiert oder interessieren sollte. Die Tatsache an sich, dass da nun in den Köpfen ein unerwarteter neuer Archetyp auftaucht, eröffnet neue Möglichkeiten in der öffentlichen Diskussion.“

“Es reicht nicht, den einsamen Kreuzritter zu finden, der das kaputte System zu ändern versucht, und ihn oder sie zu porträtieren – das Ziel ist, wo immer möglich tiefer zu schürfen und sich die systemischen Veränderungen anzuschauen, anstatt einen einzelnen Menschen auf einen Heldensockel zu heben. Das half mir, darüber nachzudenken, wie ich besser über die falschen Erzählungen rund um Waffengewalt berichten kann. Es hat zum Beispiel meine Entscheidung beeinflusst, nicht nur über einen tollen Menschen zu berichten, der sich für Verbrechensopfer einsetzt, sondern stattdessen zwei Gruppen zu porträtieren, die Seite an Seite das ganze Feld von Opferschilderungen neu justieren und damit etwas Größeres schaffen. Wir fanden unsere Protagonisten innerhalb von Programmen, die diese Bedürfnisse abdecken und haben davon ausgehend die Hindernisse, Probleme und Statistiken identifiziert, die mit dem Problem zusammenhängen.“

Sarah Stillman portrait
Sarah Stillman
The New Yorker